Der Zaunigel

Anmerkung von Volker Lechler:
[Der nun folgende, im Original handschriftliche Aufsatz wurde, wie aus dem Zusammenhang zu entnehmen ist, von Eugen Grosche verfasst. Die im Text kleiner geschriebenen Stellen sollen verdeutlichen, dass Grosche hier Korrekturen eingefügt hat. Ich habe den Satzumbruch bewusst so belassen, damit die Authentizität nicht verfälscht wird. Auf eine Besonderheit möchte ich hinweisen: Bei mehreren der Texte stellte Eugen Grosche einen „Dr.“ vor seinen Namen, obwohl er nicht promoviert hatte.]

Der Zaunigel
von Dr. E. Grosche

Das Geschlecht der Igel ist in Mitteleuropa nur durch einen einzigen Repräsentanten, unseren bekannten Haus- oder Zaunigel vertreten. Es ist kaum glaubhaft, wie viel Feinde der Igel besonders unter den Menschen noch hat, da es immer noch grosse Teile der Bevölkerung gibt, die in dem Igel ein gefährliches und zu vernichtendes Tier sehen, doch ist gerade das Ge­genteil richtig. Der Landmann dagegen ist aufgeklärter und weiss, welche Freunde er an den Igeln hat, und hegt sie und beschützt sie, wenn sie sich in seinem Hof und Garten anfinden, weiss er doch, dass der Igel nicht nur ein riesiger Mäusevertilger, sondern auch ein geschwo­rener Feind alles Ungeziefers ist, denn er verschont kein Tier, welches er auf seinen Gängen in Haus und Feld vorfindet. Leider wird das Tier in den letzten Jahrzehnten in Deutschland immer seltener und ist vor allem in der Nähe der Grossstädte im Aussterben begriffen. Früher konnte man den Igel weit zahlreicher antreffen als heute. Auf dem Lande hat er eigentlich nur wenig natürliche Feinde. Gegen die Tierwelt vermag er sich vermittels seines Stachelschutz­panzers meist zu sichern, nur einzelne große Raubvögel werden ihm durch ihre langen, dolch­artigen Fänge gefährlich, und nur manchmal stellt sich der listige Fuchs die Aufgabe, den zu­sammengekugelten Igel mit den Vorderpfoten behutsam in ein in der Nähe befindliches Ge­wässer zu rollen, um ihn dadurch zum Aufgeben seiner Schutzwehrstellung zu veranlassen und ihn dann zu verspeisen. Auch die Zigeunerbuben sind eifrige Igeljäger. Man sieht sie im Herbst, wo der Igel am feistesten ist, mit langen spitzen Stöcken bewaffnet, eifrig in den Waldlichtungen und an den Gartenzäunen die Welklaubhaufen durchstöbern, um die vorhan­denen Igel aufzuspiessen.
Zur Naturgeschichte des Igels ist zu bemerken, dass der Igel eigentlich in die Ver­wandtschaft der Spitzmäuse und Maulwürfe zu zählen ist; denn er reiht sich in die Ordnung der Nager ein, und bringt sich dadurch sogar in die nächste Verwandtschaft mit dem Hasen, seinem aus dem berühmten Wettlauf bekannten Vetter, so sonderbar dies auch erscheinen mag. Die Naturforscher zählen ihn ja als eigene Familie in der Ordnung der Kerfjäger auf.
Dass der Igel, wie oben bereits gesagt, das einzige hier lebende Tier ist, welches einen eigenartigen Panzer, der den Rücken und die Seiten mit Stacheln bedeckt, trägt, ist ja allge­mein bekannt. Er rollt sich in Gefahr und Not zu einer Kugel zusammen, indem er Kopf, Schulterblätter, Leib und Füsse einzieht und dann nach allen Seiten von Stacheln starrt. Auf diese Weise bildet er sich gegen Hunde und andere Angreifer aus der Tierwelt eine gute zu­verlässige Abwehr. Allerdings ist dabei zu bemerken, dass besonders die Jagdhunde anschei­nend durch seinen bisamartigen Geruch besonders aufgeregt werden, und junge Hunde be­zahlen regelmässig einige Male hintereinander blutiges Lehrgeld, indem sie sich durch die Stacheln an Maul und Lefzen verletzen, ehe sie klug werden; die meisten älteren Hunde ver­bellen nur den Igel ohne, klug geworden, sich an ihm zu vergreifen. Es ist für den Naturfreund sehr interessant, den Igel während seiner Jagdtätigkeit zu beobachten. Wenn man einen zu­sammengerollten Igel trifft, so braucht man nur ein paar Minuten regungslos und still zu war­ten, dann wird man sehen, wie sich die anscheinend leblose Kugel langsam aufrollt und ein griesgrämliches Faltengesicht mit einer spitzen Schnauze behutsam zum Vorschein kommt. Bald aber glätten sich die Hautfalten und der Igel bekommt sein friedartiges, gemütliches Ansehen wieder und geht mit der ihm eigenen gründlichen Sorgsamkeit wieder auf die Suche nach allerhand Würmern und Insekten. Sorgsam wendet er jedes grössere welke Blatt um, durchschnüffelt alle Gras- und Blatthaufen, sticht mit der spitzen Schnauze in die Dunkhaufen und holt schmatzend die darin befindlichen Würmer hervor oder stattet dem Obstgarten einen sorgfältigen Besuch ab nach dort liegendem Fallobst, das für ihn eine ganz besonders leckere Speise ist.
Von den Landleuten wird, wie gesagt, der Igel sehr gern gesehen, und er ist wohl auf jedem Gehöft in ein oder mehreren Exemplaren zuhause. Sein Quartier hat er meistens in der Scheune oder im Geräteschuppen, und er hat schon manchen Uneingewehten unheimlichen Schrecken eingejagt, wenn er nachts wie ein Gespenst auf den Sparren und Balken der Scheu­ne seine heimliche Jagd treibt. Trotz seiner anscheinenden Unbeholfenheit und geringen Ge­schwindigkeit gelingt es ihm oft genug eine Maus zu beschleichen und durch blitzschnelles Zustossen zu überlisten. Auch in der Stadt wird der Igel sehr gern in Bäckereien gehalten, da er in der Vertilgung der Küchenschaben vorzügliches leistet. Am Tage verkriecht er sich meistens in einen dunklen Winkel und schläft, aber bei Eintritt der Dunkelheit wird er munter und streift suchend umher.
Der Igel ist nicht, wie manche Leute annehmen, Höhlenbewohner, sondern baut sein Nest im Freien, meist in dichten Dornhecken oder unter Reisighaufen, indem er Moos und welkes Laub zusammenträgt und sich damit ein warmes, gut ausgepolstertes Nest einrichtet. Interessant ist es, wie er diese Baustoffe zu seinem Nest heranträgt, da er nämlich auf höchst originelle Weise das welke Laub auf seine Stacheln aufspiesst, indem er sich im welken Laub herumwälzt und es dann nach Hause trägt, was also ein Zeichen von grösserer Intelligenz und bewusster Überlegung ist. Der Igel gehört zu den Winterschläfern. Kurz vor Eintritt des Fro­stes bezieht er sein besonders ausgestattetes Winterquartier und schläft fast ununterbrochen den ganzen Winter hindurch zu einer runden stachelbewehrten Kugel erstarrt, bis er im ersten Frühjahrsmonat, so wie ein laues Lüftchen weht, zu neuem Leben erwacht. Im März beginnt auch seine Gattungszeit und es ist interessant, welchen Lärm das Igelpaar oft nächtlich bei seinen Liebesspielen in der Scheune aufführt. Die Igelin pflegt eine sehr spröde Braut zu sein, indem sie ihren Liebhaber oft stundenlang mit seinen Liebesbemühungen sich abmühen lässt, ehe sie sich ihm ergibt. Sehr drollig sehen die jungen Igelchen aus, wenn sie, oft 5 – 7 Stück, hinter dem alten Muttertier ihre ersten noch unbeholfenen Ausgänge machen. Leider fallen viele von den Jungen trotz der äussersten Wachsamkeit der Mutter den ihnen eifrig nachstel­lenden Wieseln und Ratten zum Opfer. Der Igel ist ein sogenanntes Standtier, da er oft jahre­lang sein Quartier behält und sich nur selten zum Auswandern nach einem anderen Gehöft entschliesst. Alte Schäfer, welche die Igel, die sehr oft in Schafställen zu finden sind, durch Beinringe kennzeichneten, haben gefunden, dass die Stammeltern oft bis zu einem Jahrzehnt in der selben Schäferei ausharren, während das junge Volk sich notgedrungen späterhin zer­streute und in das Dorf hinüberwanderte.
Jeder Naturfreund sollte also nach besten Kräften dazu beitragen, das Vorurteil, wel­ches so viele Menschen gegen das Geschlecht der Igel hegen, zu bekämpfen und zu zer­streuen, da wir in dem Igel eins der nützlichsten Tiere für Garten und Feld erblicken müssen, da er ungeheure Mengen von Mäusen und Ungeziefer vertilgt.