Ameisenstreiche
Anmerkung von Volker Lechler:
[Der nun folgende, im Original handschriftlich verfasste Aufsatz wurde von Eugen Grosche geschrieben. Die im Text kleiner geschriebenen Stellen sowie Durchstreichungen sollen verdeutlichen, dass Grosche hier Korrekturen eingefügt hat. Ich habe den Satzumbruch bewusst so belassen, damit die Authentizität nicht verfälscht wird.]
Ameisenstreiche
von Dr. Eugen Grosche Berlin
„Mohrchen“ war ein von der Natur besonders gut bedachtes
Ameisenfräulein. Ihre schlanke, biegsame Gestalt, die vornehm
und stolz geschwungenen Fühlerkeulen, der dunkle, samtartige
Glanz ihres Körpers, machten sie zu einer der schönsten unter
den zahlreichen Arbeiterinnen ihres Volkes. Die Samthäarchen, die ihren
schlanken, jungen Körper bedeckten, schimmerten dunkler als die
ihrer Artgenossinnen und sie hatte deshalb den Namen „Mohrchen“
bekommen. Sie gehörte zwar erst der jüngsten Generation des
Stammes an, war erst im Mai geboren, aber trotzdem war sie
bereits der Jägerinnenklasse ihres Volkes zugeteilt, die für Nahrung
sorgen müssen. Sie war behend, kräftig, besaß einen stark ausge-
prägten, verfeinerten Geruchssinn und hatte ein aufgewecktes
Köpfchen, alles Eigenschaften, die eine Jägerin der Ameisen
besitzen muß, um in diese wichtige und bevorzugte Klasse auf-
genommen zu werden. Dazu kam noch ein ungeheurer Taten-
drang, den sie in sich hatte, der sie schon so manchmal in
Lebensgefahr bei ihren Streifzügen brachte.
Es war ein wunderschöner, klarer Junimorgen. Auf den
Gräsern und Blumen blitzten unzählige schimmernde Perlen. Die
kleinen schwarzen Käfer, die in den gelben Wiesenblumen
wohnten, kamen hervor. Winzige Grasfliegen begannen ihre
Rundflüge von Blume zu Blume. Schon kamen summend die
ersten Bienen aus dem Stocke da drüben im Garten des
weißen Hauses angeflogen. Ein gelber Zitronenfalter, der im
Kelche einer blauen Glockenblume übernachtet hatte, breitete
leise und sorgsam seine prächtigen Flügel auseinander, sodaß sie
in den ersten Sonnenstrahlen goldig aufleuchteten, wünschte der
Glockenblume freundlich einen guten Morgen und begann im
taumelnden Fluge dahinzugleiten. Zuerst fast senkrecht in die
Höhe, dann im jähen, waghalsigen Gleitflug wieder nach unten
dem Blumenteppich der Wiese zu, das Herz fast trunken von
Freude und Lebenslust.
Auch die beiden kleinen, rotbraunen Ameisen, die soeben
den gewundenen Stengel dereiner blühenden Winde herunterkamen, waren
sehr frühlingsfroh durch diesen herrlichen Morgen gestimmt. Sie hatten
als Morgenimbiß von den kleinen Schutzblättchen der Winden-
blume, die dicht am Stengel angebracht sind, Süßsaft geleckt, dazu
einen Trank von den klaren Tautropfen getan, und nun
gingen sie frohgemut auf Jagdbeute aus, die winzigen Fühler
lebhaft bewegend. Auf dem Feldwege, aufin einer tiefen Radspur
machten sie halt. Weißt Du Li, sagte Mohrchen zu ihrer schon
älteren Gefährtin, ich möchte zu gern einmal diese endlose
glatte Straße verfolgen, um zu sehen, wohin sie führt. Sie
ist bequem zu gehen und man kommt gewiß in gute Jagd-
gründe. Haben wir dann Beute, so können wir diese leicht
transportieren und sind sicher vor Abend wieder heim. Doch Li
bewegte abwehrend ihre Fühlerhaare. Nein, nein, Mohrchen, dies
dürfen wir nicht tun. Du weißt, die Königin gibt nie wieder
die Erlaubnis, unsere Jagdreviere zu verlassen, seit damals von
dem Jagdzug, den 20 der Unseren unternahmen, keine einzige
Teilnehmerin zurückgekommen ist. Bedenke auch, wir könnten den
roten, blutigen Raubameisen in die Hände fallen, die stärker
sind als wir. Wir werden dann sicher getötet oder in die
Sklaverei geschleppt, müssen dann in fremden Nestern arbeiten
und unsere schöne Freiheit ist für immer dahin. Doch Mohrchen
ließ keine der Einwendungen gelten. Immer aufs Neue
drang sie in die Freundin und malte die zu entdeckenden
Neuigkeiten in glänzenden Farben aus. Gedenke doch Li, es
weiß ja niemand u. wir sind gewiß bis zum Einbruch der
Dunkelheit zurück. Und den Ruhm, der Unserer harrt, wenn
wir zurückkommen und neue, reiche Gebiete entdeckt haben.
Wir werden dann sicher dem Hofstaat der Königin eingereicht
und zu deren Dienst in den innersten Gemächern herangezogen
werden. Denke Dir, diese Ehre für uns. Damit hatte Mohrchen
den wunden Punkt in der Seele der Freundin getroffen, denn
Li war sehr ehrgeizig. Eine Weile noch zauderte und überlegte
sie, dann gab sie nach. Noch einmal zogen die Beiden nun
ihre Fühler anfeuchtend durch ihre Mäulchen, damit ja der
leichteste Windhauch zu spüren sei. Dann rannten sie los,
die fremde, lange, ins Unbekannte führende Straße entlang.
Und sie kamen tatsächlich rasch vorwärts. An einer
saftigen, grünen Raupe, die über den Weg kroch, eilten
sie achtlos vorüber. Dann trafen sie weiterhin am Rande
der Straße auf einen großen, blauen Roßkäfer, der schon
eifrig bei seiner Morgengrabarbeit war. Sie frugen ihn, ob er nicht
wüßte, wohin dieser Weg führte. doch der mürrische, dicke Geselle
gab ihnen brummend zur Antwort, das ging ihn garnichts
an, er kümmere sich nur um seine Arbeit und ginge nicht
auf Abenteuer aus wie andere Leute. Und dabei warf er mit
seinen schaufelgeformten Vorderbeinen derartig mit Erde
um sich, daß die kleinen Ameisen erschreckt weiterliefen.
Nach einer halben Stunde hatten sie ein gefährliches Abenteuer
zu bestehen. Ein riesiger, tiefschwarzer Laufkäfer mit mächtigen
Zangen setzte ihnen nach. Und obwohl die Ameisen im
Allgemeinen sehr mutige Tiere sind, waren die Beiden
doch klug genug, um zu sehen, daß hier nichts zu machen war.
Und sie rissen aus, was sie laufen konnten. Hätten sie
sich nun nicht zufällig unter einen an der Straße liegenden
Feldstein flüchten können, so wäre wohl hier ihre Entdeckungs-
fahrt zu Ende gewesen, denn der Verfolger verfügte über eine
ganz außerordentliche Schnelligkeit. Als nach einer Weile der
Käfer brummend davon gelaufen war, gingen die Beiden
weiter. Da machte auf einmal die Straße eine Biegung
und zu dem größten Erstaunen der Ameisen kreuzten noch
mehrere derartige Straßen diejenige, welche sie gekommen waren.
Nach einer kurzen Unterredung wählten sie sich die tiefste
der Straßen zur Weiterwanderung aus. Es war auch ihr Glück.
Denn kurz darauf erschien eine starke Patrouille von den schwarzen
Wegameisen, die hier in der Nähe wohnten, auf der Bild-
fläche. Und diese Ameisenart ist als besonders bissig und unver-
träglich bekannt. Hörst Du das starke Summen der Bienen,
die über uns wegfliegen, fragte Li. Ich glaube, wir müssen
ganz in der Nähe des weißen Hauses sein, wo sie wohnen
und von dem sie uns oft erzählten. Ihr Nest soll ja viel,
viel schöner und größer sein als das Unsere. Nicht lange
darauf sahen sie auf dem Wege eine Biene sitzen, die
müde war und sich ausruhte. Und die beiden Ameisen senkten
zum Gruß ehrfurchtsvoll ihre Fühler, denn die Bienen sind
ein sehr mächtiges Volk, die immer fliegen können, während
bei dem Ameisenvolke dies nur im August die Männchen
und Weibchen fertigbringen. Ja sagte die Biene, hier dicht
über uns auf dem Fensterbrett steht ein große Napf, in dem ist süßes Johannisbeer-
kompott. Ich sage Euch, dies ist etwas kostbares und schmeckt
herrlich. Klettert nur hier die weiße Wand dicht vor uns
empor, aber laßt Euch nicht von der Frau erwischen.
Die Ameisen verstanden zwar nicht viel von dem, was die
Biene erzählte. Aber da die Bienen sehr weise Leute sind, die
viel in der Welt herumkommen, so beschlossen Li & Mohrchen
den Rat zu befolgen und sich die Sache anzusehen, denn hungrig
waren sie auch. Und sie stiegen beide die weiße gerade
Wand empor. Es steigt sich hier famos, sagte Mohrchen, an
den kleinen weißen Körnern kann man sich sehr gut festhalten.
Schon merkkam ihnen ein süßer Duft entgegen, den sie
noch nie gerochen hatten. Und dann waren sie am Ziel.
Eine Menge Bienen waren schon da, kamen und gingen.
Kommt ihr Kleinen, riefen sie, kostet davon, es ist genug
- Und die beiden Ameisen erglommen die Glasschale und
begannen, nach sorgfältiger Prüfung mit den Fühlern, eifrig die rote
Flüssigkeit zu lecken. Ei, wie das schmeckte, so etwas Schönes gab
es daheim nie. Was wird wohl die Königin dazu sagen, meinte
Mohrchen, die ihr Kröpfchen schon fast vollgesogen hatte, und
versetzte Li vor Freude eins mit der rechten Fühlerkeule.
Wir wollen nur genügend zur Probe davon mitnehmen. Und
sie tranken und leckten, soviel sie nur konnten. Mohrchen,
sagte Li, mir wird so dumm im Kopfe. Ich kann schon nicht
mehr die Fühler ordentlich bewegen. Woher kommt denn dies?
Ja sagtenriefen die Bienen, man muß erst diesen süßen Saft gewohnt
werden.
Mutti! sagte der kleine Knabe, der an das Fenster
gekommen war. Bei den Johannisbeeren sind Ameisen, ganz
ulkige, rote andere wie die im Garten, … die auch stechen wie die Bienen? Ameisen
sind schädliche Tiere, sagte die Mutter, sie gehören nicht in die
Wohnungen der Menschen. Dabei nahm sie ein Tuch
und schlug die Tiere fort. Die Bienen, welche besser sehen
konnten als die Ameisen und die drohende Gefahr rechtzeitig
noch im letzten Augenblick erkannten, flogen schnell davon.
Aber die beiden Ameisen erreichte ihr Schicksal. Li fühlte
sich plötzlich von einer ungeheuren Gewalt emporgehoben und
wurde weit durch die Luft hinweggeschleudert und blieb
vor Schreck fast besinnungslos im hohen Grase liegen. Und
das Mohrchen1 einen heftigen Schlag auf ihr Köpfchen, noch
einmal zuckten die kleinen Fühlerchen, dann fiel sie tot
vom Fenstersims herunter. Uff! sagte eine große dicke Kröte,
die unten in der Mauerritze wohnte. Wen haben wir da?
Eine fremde Ameise. Wie kommt die hierher? Und sie
verschluckte Mohrchen und drehte dabei die dicken Glotzaugen
nach oben. Die schwarze Sorte schmeckt besser, meinte sie dann
und verschwand zwischen den Gemüsebeeten. Die kleine Li
wurde ein paar Tage später gänzlich ermattet von einer
Jagdpatrouille ihre Stammes in der Nähe des Nestes aufge-
funden. Und die Königin erließ nochmals das strengste
Gebot, daß niemand diese gerade unbekannte und gefahrvolle
Straße ziehe, denn Mohrchen blieb für immer verschollen.
1[1] Hier fehlt wohl ein Wort.