
Kriegswirkungen auf das Volksempfinden
Anmerkung von Volker Lechler:
[Der nun folgende, im Original handschriftliche Aufsatz wurde, wie aus dem Zusammenhang zu entnehmen ist, von Eugen Grosche noch während des Ersten Weltkrieges verfasst. Die im Text kleiner geschriebenen Stellen sollen verdeutlichen, dass Grosche hier Korrekturen eingefügt hat. Ich habe den Satzumbruch bewusst so belassen, damit die Authentizität nicht verfälscht wird. Auf eine Besonderheit möchte ich hinweisen: Bei mehreren der Texte stellte Eugen Grosche einen „Dr.“ vor seinen Namen, obwohl er nicht promoviert hatte.]
Unbekannte Texte von Eugen Grosche
Kriegswirkungen auf das Volksempfinden
von
Dr. E. Grosche
Es ist eine unleugbare Tatsache, daß die lange
Dauer des Krieges auf das Gefühlsempfinden, auf das Innen-
leben des Volkes, einen immer mehr und mehr anwachsenden
Einfluß gewinnt. Und zwar ausschlaggebend nachteiligen Ein-
fluß. Es soll hier nicht von der so oft schon angeführten
Verrohung, dem Emporwuchern der bösartigen Naturinstinkte
im niederen Volke, die Rede sein, sondern es sei hier besonders
auf die gewaltig emporkommenden Handlungsweisen der
egoistischen Denkensart des heutigen Menschengeschlechtes hinge-
wiesen. Es scheint, als ob gleichsam die Tünche, welche Kultur
und Religion auf das Menschentum in Jahrhunderten legten,
abblättert durch die Schwere der Zeit, durch die physischen
und seelischen Lasten, die der Krieg auf jeden Einzelnen
legt. Der reine Egoismus kommt mehr und mehr zum
Vorschein. – Gewißermaßen ist ja sogar heutzutage der
Mensch gezwungen, in dem verschärften Lebens- u. Daseins-
kampfe egoistisch zu handeln, um überhaupt bestehen
zu können. So stehen wir hier oft in dieser Zeit vor
den krassesten Gegensätzen. Ein gewiß nicht geringer Teil
des deutschen Volkes opfert sich auf, um die Not und die
Schrecken des unseligen Krieges zu lindern, bringt die
größten persönlichen Opfer, aber der weitaus größere Teil
verfällt allmälig einer stumpfen Gleichgültigkeit. Abertausende
gibt es unter uns, die in dieser schweren Zeit nur an sich
und ihr Wohlergehen denken, nur für sich sorgen,
denen jedes Gemeinschaftsgefühl abhanden gekommen ist. Und
die Zahl derer mehrt sich täglich. Ein bitteres Erkennen,
aber leider, leider wahr.
Der Egoismus ist ja an und für sich ein
urwüchsiges Naturempfinden. Unsere Vorfahren in grauer Vorzeit,
auf der Stufe des Urmenschentums stehend, handelten sicher
rein egoistisch gleich den Tieren, kannten im Einzelfalle,
sowie es sich um Nahrungs-, Unterkunfts- und Geschlechtsfragen
handelte, gewiß keine Rücksicht auf Mitgeschöpfe, vom weiblichen
Muttergefühle abgesehen. Erst der später langsam sich entwickelnde
Herdentrieb und die beginnende Intelligenz der Menschen
führten zu gemeinsamen Schaffen, Sorgen und Genießen.
Das aufkeimende religiöse Empfinden, das Wirken der
Priesterschaft, brachte langsam durchgreifende Änderungen. Später
riefen die Lehren des Christentums mit dem Predigen der
Nächstenliebe, einen gewaltigen Aufschwung hervor, führten zur
Unterdrückung des rein persönlichen Empfindens in den einzelnen
Lebensfragen. Jetzt aber, wo jeder Kriegstag die Kirche Tausende
von Gläubigen kostet, bröckelt die mühsam erzogene Nächstenliebe
ab wie morscher Sandstein. Man braucht nur um sich zu schauen
mit offenen Augen. Das Hamsterunwesen in allen seinen Blüten
und Auswüchsen zeigt so recht den Egoismus, der die breiten
Massen jetzt beherrscht. Auf gefüllten Vorratskammern u. Kellern
sitzen die Einen, während die Meisten darben. Keiner öffnet
die Hand, um die Not der Mitmenschen zu lindern, obwohl er
es könnte. Tausende machen auch nicht einen Versuch zu helfen.
Jeder ist sich selbst der Nächste, ein altes Sprichwort, dessen
grausame Wahrheit sich jetzt so recht zeigt. Auf dem
Lande macht sich besonders diese kalte Engherzigkeit bemerkbar.
Dem Bauer, der im allgemeinen, seinem Empfinden,
seiner Erziehung nach, egoistisch denkt, erstarrt das Herz zu
Stein. Kalten Lächelns läßt er die Zitternden gehen, obwohl er
oft helfen könnte, ohne das Gesetz zu verletzen. Oder er fordert
Wucherpreise, die an Unverschämtheit grenzen.
Der Kleinhändler in Lebensmitteln und Bedarfs-
artikeln für das tägliche Leben, vor dem Kriege an sich im
Durchschnitt infolge des scharfen Konkurrenzkampfes sein Gewerbe
und Geschäft redlich betreibend, beutet jetzt seine Kundschaft
aus, rücksichtslos und scrubellos [sic!] nach bestem Wissen u. Können.
Man betrachte die Wucherpreise in den Großstädten.
Natürlich ist dieses hier Gesagte nicht zu verallge-
meinern, aber ein hoher Prozentsatz dieser Handels- und
Erzeugerkreise arbeitet heute nach diesen bewährten Motiven u.
Grundsätzen. Von dem gewissenlosen Denken u. Handeln der
eigentlichen Kriegswucherer und Kettenhändler sei hier garnicht die
Rede.
Aber auch in den breiten Schichten des Volkes
macht sich der Egoismus bemerkbar. Die Angestellten aller
Branchen, die dienenden Kreise, wissen ein Lied davon zu
singen. Die so sorgsam geschaffenen Bindungsglieder, welche die
verschiedenen Volksschichten zusammenfügten, mit einander
verbanden, deren Schaffung Jahrzehnte mühevoller Arbeit
kosteten, um das Volk zu einem Ganzen zu vereinen,
klaffen heute zerrissen auseinander. Arbeiterschaft, Bürger-
tum u. Bauernstand stehen sich im Existenzkampfe wieder in
der alten Schärfe gegenüber. Der Haß zwischen den Bewohnern
der Städte und des platten Landes ist tiefer als je. Früher
wurde der Bauer von dem Städter verachtet, jetzt haßt man
ihn, schon um des Überflußes Willen. Es wird den Führern
des Volkes viel, viel Mühe kosten, diese Tiefen wieder auszu-
gleichen, die Risse zu füllen und versöhnend zu wirken.
Auch der Neid blüht üppiger denn je in
diesen Tagen. Keiner gönnt dem Anderen den fetteren
Bissen Brot im Munde.
Die zunehmende Religionslosigkeit, der immer
mehr emporschießende Luxus der besitzenden Kreise, das sich
breit machende Protzentum der Emporkömmlinge schaffen un-
überbrückbare Gegensätze und bittere Feindschaften.
Sogar die durch die Kultur dem Volke aner-
zogenen Gesetze des Anstandes und der Höflichkeit beginnen zu
wanken. Die Rücksichtslosigkeit im Verkehrsleben, hervorgerufen,
gefördert durch die Verkehrsnot, zeigt oft krasseste Formen. Häufig
läßt man es sogar dem weiblichen Geschlechte gegenüber an der
nötigen Achtung und Rücksichtnahme fehlen. Durch das Eintreten
der Frauen in die männlichen Berufe, durch ihre öffentliche
Tätigkeit, durch die Gleichstellung mit dem Manne im täglichen
Lebenskampfe verwischen oft genug die Grenzen der Sittsam-
keit, in deren Innehaltung sich das deutsche Volk besonders von
jeher auszeichnete. Doch die Feinfühligkeit verlischt heutzutage
oft ganz. Also auch eine der nachteiligen, schwerwiegenden Wirkungen
auf das feinere Empfindungsleben des Volkes.
Alles dieses macht sich natürlich in fühlbarer,
erschreckender Weise bei unserer heranwachsenden Jugend bemerkbar.
Warnende Stimmen aus pädagogischen Kreisen ertönen ja fast
täglich alarmierend. Die Zucht der Väter fehlt.
Dann eines der schwärzesten Kapitel aus den
obengenannten Kriegswirkungen: Die zunehmende Sittenlosigkeit
des weiblichen Geschlechtes, nicht nur in den Großstädten. Man
schaue in die Spalten der Lokalpresse. Die Tausende der
Prostituierten der Städte rekrutieren sich jetzt aus manchen
Kreisen, die früher prozentual nur Wenige zu dieser Eiterbeule
der Menschheit beitrugen. Die Zahl der Ehebrüche von seiten
der Frauen, deren Männer draußen in den Gräben stehen,
steigt ungeheuer von Jahr zu Jahr. Das tiefe verfeinerte Liebes-
empfinden der Frauen wird oft genug ganz in den Schmutz gezogen. Der offensichtliche Flirt
in den überfüllten Caffeehäusern der großen Städte wirkt
erschreckend, wenn man an die Männer da draußen denkt.
So ist mit wenig Worten viel gesagt. Und
nur scheinbar mit den schwärzesten Farben gemalt. Es ist an
dem, manchmal übertrifft die Wirklichkeit noch das Gesagte.
Mag der Krieg auch manche Tugend des Volkes, manche edle
Blüte des Menschentums zum Entfalten gebracht haben, die
zu Tage tretenden Wirkungen auf das Innenleben der
breiten Massen sind schwer genug, um uns mit Sorgen in die
Zukunft blicken zu lassen. Sagen doch sogar juristische Autoritäten
voraus, daß nach dem Kriege die Justiz alle Hände voll
zu tun bekommen wird. Die Zahl der Totschläge, Morde u.
Rohheitsdelikte wird emporschnellen, hervorgerufen durch das grausame
blutige Handwerk der Männer an den Fronten, durch die
Unterdrückung des menschlichen Mitleides, gezeitigt durch die
erbittert geführten Kämpfe. Die Brutalität, der Zorn wird oft
genug ein Menschenleben nicht mehr achten. Und diese Befürchtungen
sind gewiß nicht ganz unberechtigt.
So öffnen neue Sorgen einer idealen Tätigkeit
breite Arbeitsfelder. Jahre werden vergehen, ehe die Wunden im
Gefühlsempfinden des Volkes vernarben werden. Möge es gelingen,
diese schädlichen Naturinstinkte wieder einzudämmen in die
Schranken der Kultur, der Zivilisation, und den geistigen
Aufschwung des Innenlebens des Volkes wieder zu fördern in alter Weise,
im gleichen Fortschritte, wie vor dem Kriege.